Eugen Kolisko (1893 – 1939)

koliskoEugen Kolisko (1893 – 1939) ist in besonderem Maße mit der Entwicklung der Waldorfpädagogik und der anthroposophischen Medizin verbunden. Als junger Mensch lernte er Rudolf Steiner kennen und wurde bald einer seiner engsten Mitarbeiter, ja Freund. Aus einer Familie mit langer medizinisch-wissenschaftlicher Tradition der damals bedeutenden ‚Wiener Medizinischen Schule‘ stammend, wendete er sich bereits früh gegen die Materialisierung der Medizin und trat öffentlich für eine Erweiterung der Medizin durch die Anthroposophie ein. 1919 wurde er an die erste Waldorfschule in Stuttgart/Uhlandeshöhe gerufen und wurde zum Begründer der Schularzttätigkeit in den Waldorfschulen.

Eugen Kolisko wurde am 21. März 1893 in Wien geboren; er starb am 29. November 1939 in London. Der Vater, Hofrat Dr. Alexander Kolisko (1857-1918), war Professor der pathologischen Anatomie an der Wiener Universität, die Mutter, Amalie Kolisko, geb. Freiin von Eschenburg, war Pianistin. So lebte der Knabe im Elternhaus in einer Umgebung, aus der sich ihm Wissenschaft und Kunst einprägten. Im Elternhaus gingen die Gelehrten der Universität und Künstler ein und aus und öffneten für die Entwicklung des jungen Kolisko eine reiche Umgebung mit vielfältigen Entwicklungsmöglichkeiten. Daraus gestaltete sich später auf den Spuren Goethes das Lebensmotiv, Wissenschaft und Kunst mit „Ernst und Fleiß“ zu verbinden. Der sieben Jahre ältere Bruder Fritz starb jung an einem Sarkom, wie später der Vater auch. Eugen Kolisko litt als Kind jahrelang an einer chronisch-eitrigen Knochenerkrankung, bis schließlich das linke Ellenbogengelenk reseziert und in Mittelstellung versteift wurde.

Zunächst wurde der Weg ganz von der Wiener Medizinischen Schule bestimmt. Wie intensiv der Student in der Wiener Schule die Möglichkeit dieser Universität ergriff, zeigt ein Tagebucheintrag des Siebzehnjährigen vom 29. November 1910: „Habe mich entschlossen, Philosophie zu studieren, und zwar mit Chemie beziehungsweise Zoologie oder Botanik als Hauptfach, zugleich als philosophischer Hörer oder als außerordentlicher an der Medizinischen Sezierübungen zu hören, im 8. Semester Doktorant, im selben Semester 1. Rigirisum, 9.-15. Semester zweiter Studienabschnitt, alles in allem etwa sieben Jahre.“ Neunundzwanzig Jahre nach dieser Eintragung, auf den Tag genau, starb er, am 29. November 1939.

Nach dem Maturum mit achtzehn Jahren studierte er Medizin und promovierte 1917, vierundzwanzig Jahre alt; sein Vater war der Dekan der medizinischen Fakultät. Er wurde dann angestellt am Institut für angewandte Medizin der Universität Wien und war Sachverständiger und Dozent für medizinische Chemie.

Mit einundzwanzig Jahren, im April 1914, hörte er die ersten Vorträge Rudolf Steiners in Wien: „Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt.“ Er wurde jetzt Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft. 1920 entschloß sich Kolisko, nach mehrfacher Aufforderung, an die Waldorfschule nach Stuttgart zu kommen. Er übernahm als Klassenlehrer eine sechste Klasse. Für Kolisko war dieser Entschluß nicht leicht. Die eigene Familie gab ihn verloren. Wie konnte einer das Ziel einer Wiener Lehrkanzel aufgeben? In der Zeit, als Kolisko als Schularzt und Fachlehrer an der Stuttgarter Waldorfschule wirkte (1920 – 1934) haben seine Kollegen seine Hilfe dankbar angenommen, sogar ein Sprachlehrer hat es für sich bestätigt.

Erinnerungen aus dem Freundeskreis :

Karl Schubert

“ … Er lebte nur für Schule und für die geistige Bewegung, die von Rudolf Steiner die innere Richtung bekam. Er war tätig in den Sitzungen der verschiedensten Gruppen, die sich mit der Vertiefung des geistigen Lebens auf allen Gebieten beschäftigten; er arbeitete in den Zusammenkünften der Ärzte, und spät abends war er noch fleißig oft bis drei oder vier Uhr früh, um sich für die Schule vorzubereiten, mit guter Miene, freudiger Seelenstimmung, ohne über die viele Arbeit zu murren oder zu klagen, betrat er die Klasse mit einem Stoß Bücher unter dem Arm. Immer hatte er etwas mitgebracht, um es den Schülem zu zeigen. Wenn er sprach, ging er vor dem Tisch hin und her, blieb auch zuweilen stehen und war ganz in der Sache dann, daß die Schüler sich immer ganz um ihn herum drängten, um ihm nahe zu sein. Man konnte nicht nahe genug sein, um aufzunehmen das von seiner warmen Menschlichkeit durchströmte Wissen …“

Ita Wegmann

“ … Wie oft habe ich die Gelegenheit gehabt, von Rudolf Steiner persönlich zu hören, wie sehr er auch Eugen Koliskos Fähigkeit schätzte, als Arzt die Kinder in der Waldorfschule richtig zu verstehen und zu behandeln, und des öfteren hörte ich Steiner mit Befriedigung aussprechen, wo es Kolisko gelungen war, in schwierigen Momenten, in denen es darauf ankam, schnell zu handeln, das Richtige zu treffen …“

Walter Johannes Stein

“ … Eugen Kolisko lebte mehr in den Seelen der Menschen, mit denen er es zu tun hatte, als in seiner eigenen Wesenheit. Für mich ist er ein Beispiel einer vollkommen selbstlosen Persönlichkeit …

Seine Fähigkeit, seine persönlichen Interessen aufzuopfern für andere Menschen oder für objektive Wissenschaft, machten ihn zu der Art von Lehrer, der alles, was er weiß, weggibt, aber auf eine äußerst persönliche, liebenswerte Weise. Es war nicht nur ,Wissenschaft‘, die er lehrte, sondern ‚Wissenschaft in Kolisko’scher Form‘. Auf der anderen Seite trat sein Privatleben nie in den Vordergrund. Wir waren enge Freunde, aber als er heiratete, teilte er es mir nicht mit. Oft, wenn er in die Schule kam, vergaß er, „guten Morgen“ zu sagen oder irgendwie zu grüßen, weil er nie das Gefühl hatte, gerade angekommen zu sein. Auf dem Wege zur Schule waren seine Gedanken bereits hingelenkt auf die Person, die er im Begriffe war zu begegnen: und wenn er wegging, sagte er nie „auf Wiedersehen“, denn er hatte nicht das Empfinden, daß er wegging. Seinen Freunden gegenüber war es eine Art „dauernder Anwesenheit“, so daß er nie de Notwendigkeit einer zeremoniellen Begrüßung oder eines zeremoniellen Abschiednehmens empfand.“

Flossie Leinhas von Sonklar

“ … Als Eurythmistin ergreife ich gerne die Gelegenheit, wenigstens flüchtig zu erwähnen, wieviel gerade die Eurythmie ihm verdankt. Mit Eugen Kollsko über Eurythmie zu sprechen war immer eine große Bereicherung. So war er wie zu Hause in ihr, und in Verbindung mit seiner souveränen Beherrschung der Menschenkunde gelang es ihm, sowohl die Heileurythmie zu dem zu erweitern, als auch die ihm von Rudolf Steiner gestellte Aufgabe des Fachunterrichts an der ehemaligen Eurythmieschule in Stuttgart über plastisch-musikalische Anthropologie so hervorragend zu gestalten.“

Karl König

„… Am Ende dieses Jahres 1953 sind es vierzehn Jahre, daß Eugen Kolisko diese Erde verlassen hat. Er starb einen einsamen Tod, der ihm wie „am Wege“ begegnete; einen Tod ohne viel Aufhebens, ohne Mühe für ihn und für andere. Ein leiser Tod, der sich wie nebenbei vollzog und in aller Bescheidenheit dieses Lebens Existenz für diesmal auslöscht hat.

Es war so, daß Eugen Kolisko am Morgen die Absicht hatte, mit seiner Frau gemeinsame Freunde zu besuchen, die in der Nähe von London eine biologisch-dynamische Versuchsstation hatten. Sie gingen zusammen zum Paddington-Bahnhof, von wo alle Züge von London aus nach dem Westen des Landes, gegen Wales zu, fahren. Er selbst wollte noch Zeitungen kaufen, indessen seine Frau in den Vororte-Zug eingestiegen war. Bei der Bahnhofsbuchhandlung brach er zusammen, wurde von einigen Menschen aufgelesen und in den Warteraum gebracht. Dort erholte er sich schnell. Er stand sofort wieder auf, aber inzwischen war der Zug mit seiner Frau schon fortgefahren. So entschloß er sich, den nächsten Zug zu nehmen und tat das auch. Er fand ein leeres Abteil, stieg ein, und dort muß er wohl, nach kürzester Zeit, verschieden sein. Denn auf einer der nächsten Stationen, in einem Vorort Londons, als der Zug hielt, wurde er tot aufgefunden.

Sein Herz hatte plötzlich versagt und zu schlagen aufgehört. Das vollzog sich in völliger Einsamkeit, in einer Umgebung, die kaum trostloser sein könnte. Ein dunkler Novembertag in einem Londoner Vorstadtzug, umgeben von den Gespenstern der modernen Technik, allein in einem Abteil. Dorthin hatte ihn sein Engel geführt um ihm, fern von allem, das Licht das letzte flackernde Licht in seinem Herzen auszublasen.

Für ihn und seine Umgebung war es ein unerwartetes, damals unverständliches Ereignis. Warum mußte dieses außerordendliche Leben so bald und so plötzlich zu Ende gehen? Manches war im Aufbau und konnte ohne ihn nicht weitergeführt werden: Bruchstücke blieben liegen.

Als Eugen Kolisko starb, war er noch nicht siebenundvierzig Jahre alt.“

Herbert Hahn

“ … Ich erinnere mich an einen Abend, bei dem ich all das in besonders schöner Weise erlebte. Ich war damals aus Norwegen gekommen, wo ich einige Vorträge über lbsen gehalten hatte. Ich sprach über lbsen, aber ich sprach auch über Eduard Grieg, dessen Haus ich auf Troldhauge bei Bergen besucht hatte und mit dessen Verwandten ich in Berührung gekommen war… Bald nach Beendigung des Vortrages kam er zu mir und fragte, ob ich noch ein bißchen mit ihm gehen wollte. Ich willigte gern ein, und er nahm mich in seine Wohnung mit. Unterwegs sprach er nicht viel. Er schien mir zu sehr von etwas erfüllt.

Die Wohnung war, wenn ich mich nicht irre, damals so verteilt, daß sich der Speiseraum in einer Art Kellergeschoß befand. Dort stand auch ein Klavier. Ich erlebt nun die große Überraschung, daß Kolisko, ohne etwas zu sagen, sich ans Klavier setzte und mir aus den lyrischen Stücken von Eduard Grieg vorspielte – eines zarter und schöner als das andere. Ich hatte überhaupt nicht gewußt, daß er spielen konnte … Ich war – das darf ich ehrlich gestehen – ergriffen darüber, daß dieser rastlose Geistesarbeiter und Geisteskämpfer, der täglich wohl über alles Persönliche, über alles Seelische hinwegschaut, sich hier in so warmen, wie ein Hauch so zarten lyrischen Tönen offenbarte.

Ich dankte ihm, durch und durch erfrischt und erfüllt. Diese halbe Stunde wäre mir fünf schwere Vorträge über Grieg wert gewesen.

„Es ist ja ein Unsinn“, sagte er, „daß das“ – er deutete auf das Griegheft – „sentimental sein soll. Die Menschen selber fürchten, sentimental zu werden, wenn sie es spielen. Und warum? Weil sie nicht fühlen können.“ Er begann hier wieder erregt, im Kreise herumzugehen, „weil sie nicht fühlen können, wieviel Natur-Geistigkeit da aufglitzert wie verborgenes Gold. Es können nicht in aller Musik die Chöre der Erzengel einherschreiten. Da – hörens‘ nur diesen Akkord!“

Er war wieder ans Klavier gegangen und schlug ihn an:

„Man sollte etwas vom Geist des alten Keltentums spüren! Man würde diese Musik nicht nur begreifen, sondern lieben. Und wissen Sie“ – jetzt trat er ganz nahe an mich heran – „was dahinter steht, könnte die Menschen sogar gesund machen.“ Ich habe Kolisko nur dieses eine Mai spielen hören. Aber seit ich so in seine Seele hatte hineinlauschen dürfen, erschien er mir in einem ganz neuen Lichte.

Das Wesensbild

„Persönlichkeiten wie Dr. med. Eugen Kolisko können von der anthroposophischen Bewegung nicht hoch genug eingeschätzt werden. Er hat in Haag über biologische und chemische Probleme und auch über freies Geistesleben durch Anthroposophie gesprochen. Der naturwissenschaftliche Phänomenalismus hat in Kolisko einen Verfechter, der diese Seite des anthroposophischen Denkens überall aus der unbefangenen Sach-Erkenntnis objektiv entwickelt. Man hat bei Kolisko nirgends das Gefühl, daß er von vornherein Anthroposophie in seine Welt-Erkenntnis hineinträgt, sondern überall das, daß er in einem sachgemäßen, aber intimen Denken aus den konkreten Problemen die anthroposophische Anschauung gewinnt Dabei ist er innig als Persönlichkeit mit seinen Problemen verwachsen so daß für mein Gefühl man ihm gegenübersteht als einer durch und durch wissenschaftlich überzeugend wirkenden Persönlichkeit. Wenn ich von ihm so sprechen höre wie diesmal über freies Geistesleben, dann habe ich die Empfindung; der redet bis ins Herz hinein wahr; und in dieser Wahrheit lebt er sich restlos aus.“

Rudolf Steiner

Quelle: „Auf der Suche nach neuen Wahrheiten“ –
Eugen Kolisko Goetheanistische Studien“
ISBN 3-7235-0543-0″